Blick frei!

Das Wiener Stadtbild und die Planung von Sichtachsen 1850-1900. Ein Blick zurück nach vorne.

Andreas Zeese

Abb. 4, ZÖIAV 1895, Nr. 12, S. 163

Ladislaus Eugen Petrovits (Aquarell) / Adolf Riehl: Planung für eine Avenue Tegetthoff-Monument – St. Stefansdom, Ansicht des projektierten Platzes an der Donaukanalbrücke, 1895. Veröffentlicht in ZÖIAV, Jg. 47 (1895), Nr. 12, S. 162.

Das Bild einer Stadt lebt von Blickbezügen und Sichtbeziehungen. Silhouetten, Fernsichten, Aus- und Einblicke bieten bleibende visuelle Eindrücke, die sich im Gedächtnis festsetzen. Sie sind nicht nur touristisch relevant, sondern auch identitätsstiftend für die Stadtbevölkerung. Werden vertraute Bilder beeinträchtigt oder gestört, führt dies häufig zu Kontroversen. Die Auseinandersetzungen um den Bau von Hochhäusern in städtebaulich sensiblen Bereichen belegen dies anschaulich.

Durch seine besondere topographische und historische Situation war Wien bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts auch in seinem Zentrum eine Stadt der Fern- und Ausblicke. Hierzu trug in erster Linie der breite Freiraum des Glacis rund um die Innere Stadt bei, der nicht nur weite Blicke auf den Wienerwald, sondern auch auf die Vorstädte und die umwallte Innenstadt ermöglichte.

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Andreas Zeese, Univ.Lektor TU Wien / Architekt

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Im Zuge der Bebauung dieses Areals ging ab 1857/58 ein Großteil der früheren Blickachsen verloren. Zu den gravierendsten Verlusten gehörten die vielen Veduten der barocken Karlskirche, deren vielgliedrige Silhouette aus dem Achsensystem der Ringstraße weitgehend ausgeschlossen war.

Als Ausgleich für diesen und ähnliche Verluste kamen ab den 1890er Jahren mehrere Initiativen für Blick- und Sichtachsen auf. Sie zielten einerseits auf den Erhalt bestehender Sichtbezüge (Lazaristenkirche, Karlskirche), andererseits auf eine neue visuelle Inszenierung des Stephansdoms mit städtebaulichen Mitteln. Hierzu gehörte die Planung neuer Straßen und Platzanlagen, die axial auf den Turm bzw. auf den Chor des Doms zulaufen sollten. Letzt-lich wurden allerdings nur lokal begrenzte Maßnahmen zur Verbesserung der visuellen Einbindung der Stephanskirche realisiert.

Der vorliegende Beitrag widmet sich – auch mit Blick auf aktuelle Debatten – dem Stellenwert von Blickachsen und Sichtbeziehungen im Wiener Städtebau der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Neben der Vorstellung entsprechender Initiativen der 1890er Jahre zur Schaffung neuer Sichtachsen werden Aspekte der heutigen Stadtbildgestaltung diskutiert und die Frage gestellt, ob und welche Lehren aus der Geschichte gezogen werden können.